Der GeschichtenzuspitzerHILDESHEIM IST ÜEBERALL: Jo, sag uns doch mal genau, was du eigentlich von Beruf bist!
JO SCHNEIDER Ich bin Journalist, im engeren Sinne Print-Journalist. Das klingt immer etwas altbacken, aber, da ich für eine Tageszeitung arbeite, bin ich das wahrscheinlich noch vornehmlich. Auch wenn wir natürlich die Online-Medien heutzutage gleichberechtigt mitbespielen und man sich nicht mehr nur auf seine Scholle des feuilletonistischen Schreibens zurückziehen kann. Was genau machst du und wie war dein Weg dorthin? Ich habe nach meiner Zeit in Hildesheim ab 2010 beim Tagesspiegel volontiert und danach eine Zeit lang als Pauschalist, also fester Freier, in der Kulturredaktion gearbeitet. Dort habe ich die Seite „Berlin-Kultur“ mitverantwortet und bin seit Januar 2013 verantwortlich für die Samstagsbeilage „Mehr Berlin – Vier Seiten Kunst, Politik und Stadtgefühl“, die es im Tagesspiegel seit August 2011 gibt und die ich auch während meines Volontariats mit entwickelt habe. Vier Seiten pro Woche – ist das wirklich ein Vollzeitjob? Das ist aber mal hallo ein Vollzeitjob! Man kann sich das so vorstellen wie ein ganz kleines Magazin. Der Ursprung war, dass der Chefredakteur kam und, polemisch zugespitzt, sagte, er möchte die großen Berlin-Texte, die großen Reportagen, die großen Feuilletons, Essays, Denkstücke über Berlin nicht länger auf der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung lesen. Es geht also um die die Hintergrundgeschichte, eben nicht immer nur das kleine tagesaktuelle „Gerödel“. Für alle, die „Mehr Berlin“ nicht kennen – wie ist das genau aufgebaut? Das Konzept dieser Beilage ist eigentlich relativ schnell erklärt. Es gibt immer eine Titelseite, die von einer Berliner Künstlerin oder einem Berliner Künstler gestaltet wird. Dann schlägt man auf und hat eine Doppelseite, auf der eine große Reportage ist, und dann schlägt man wieder zu und hat eine Rückseite und da sind kleinere feuilletonistische Formen, Gedichte, Stadtszenen, ein polemischer meinungsstarker Ich-Kommentar, Kolumnen, Herziges und Scherziges. Schreibst du selbst Texte für die Beilage? Es hat stark abgenommen. Ich bin vor allem dazu da, das große Ganze im Blick zu haben, die großen Texte zu redigieren und so weiter. Es gibt auf dieser letzten Seite kleinere Formen, die ich auch entscheidend mitbestücke, also Satiren, Kolumnen, kleine Editorials. Daneben schreibe ich für die Kulturredaktion auch hin und wieder Rezensionen oder auch mal Essays. Wie findet ihr die Themen für eure Seiten? Das ist ein bunter Mix. Man arbeitet einerseits mit den Vorschlägen, die kommen, und andererseits überlegt man sich selbst, was Themen wären, die man jetzt setzen könnte und wer dafür ein guter Autor, eine gute Autorin wäre. Wir haben jeden Montag eine Konferenz mit vielen Journalisten – Freie und welche aus dem Haus – und es ist immer eine sehr offene Runde, wo manchmal auch Themen "from the edge" entwickelt werden. Was gibt es dann für Kriterien für die Auswahl, was ins Heft kommt und was nicht? Bei jedem Themenvorschlag überlegt man, wie kann man das jetzt erzählen, was wäre dafür die ideale Form, was ist unser Claim dabei. Wir haben schon eine relativ hohe Hürde, weil der Anspruch dieser Doppelseite ist, ein Thema, das für Berlin symptomatisch ist, lebendig und figurenreich zu erzählen. Es ist ein bisschen die Quadratur des Kreises. Denn man überlegt auf der einen Seite, was ist ein großes, allgemeingültiges Thema, und auf der anderen Seite, wo habe ich einen tollen Protagonisten, wo komme ich ganz nah ran. Was gibt es da zuletzt für Beispiele? Unser Dossier darüber, wie die Online-Plattform Airbnb den Berliner Wohnungsmarkt verändert, fand ich zuletzt auch in dieser Hinsich bemerkenswert, weil wir da eine große Veränderung ganz eng an einzelnen Menschen erzählen. Das hat auch deshalb so gut funktioniert, weil es als Serie über drei Ausgaben, drei Doppelseiten ging, die anschließend als eine große Multimedia-Reportage – haeuserkampf.tagesspiegel.de – für das Web aufbereitet wurden. Was sicherlich noch ein Coup war, den wir im letzten Jahr gelandet haben, war, als ein Kolleg irgendwann kam und sagte, auf der Cuvrybrache in Kreuzberg passiert gerade etwas. Dort fangen Leute an, Hütten zu zimmern, da ist so ein ganz explosives Sozialgemisch aus osteuropäischen Wanderarbeitern, deutschen Weltverbesserern, Lampedusa-Flüchtlingen etc. Wir haben dann den Reporter dort hingeschickt und ihm gesagt, er soll wirklich diese verschiedenen Protagonisten ansprechen und eine Typologie der Menschen, die da unterwegs sind, machen. Wir haben das dann mit ihm auf diesen Claim gebracht: Berlins Favela. – Das ist wirklich riesig eingeschlagen. Man weiß, dass man offensichtlich einen Nerv getroffen hat, wenn am Tag danach eine große Boulevardzeitung, in dem Fall der Berliner Kurier, dieses Thema aufgreift und zum Titelthema macht, es völlig anders und natürlich viel schlechter erzählt. Wie sahen die Unterschiede in der Berichterstattung aus? Wir haben einfach gefragt: Was ist das für ein soziales Phänomen, was passiert da und wie muss Europa damit umgehen, wenn sich jetzt auch in unseren Städten solche Cluster bilden? Es ist bei uns wirklich ein großartiger Text geworden, der das breit problematisiert. Am nächsten Tag war natürlich im Kurier die Schlagzeile so etwas wie „Ekelhaft, hier verrottet Berlin zum Slum“. Spannend! Hast du noch ein zweites Beispiel? Eine andere Sache, wo es für uns sehr gut funktioniert hat, war also eine Kollegin kam und sagte, es gebe diese Geschichte von einem jungen Mann, der nach Berlin gekommen ist, weil er ein Praktikum bei einer Start-Up-Firma machen wollte. An seinem ersten Abend hatte er Herz-, Brust- und Rückenschmerzen. Er ging in die Notaufnahme und wurde fünf Stunden nicht behandelt, also ist er nach Hause gegangen, weil er dachte, zu Hause ginge es ihm besser. Am nächsten Tag ging es ihm noch schlechter, dann ist er in eine andere Notaufnahme gegangen, hat dort aber eine Fehldiagnose bekommen. Zwischendurch war er noch bei einem niedergelassenen Arzt und ist dann tatsächlich an diesem Abend, nach 48 Stunden Berlin, gestorben. Unsere Journalistin sagte, sie hätte die Möglichkeit, diese Geschichte sehr minutiös zu erzählen, da ihr die Eltern den kompletten Materialkorpus zugänglich machen. Die Boulevard-Story sehe ich hier sofort... Genau. Wir haben dann auch zuerst gesagt: Das ist alles sicherlich sehr berührend, aber da fehlt uns das Symptomatische. Das ist dann ein Einzelschicksal, das man ganz toll erzählen kann, aber für die große Berlin-Geschichte, die wir jede Woche erzählen wollen, reicht das noch nicht. Und was geschah dann? Daraufhin ist unsere Autorin noch einmal in die Geschichte reingegangen und hat dann festgestellt: Es gibt da einen Diskurs. Es gibt einen Diskurs darüber, dass gerade in den großen Städten die Notaufnahmen immer überlaufener sind, weil die Leute nicht mehr zum Hausarzt gehen, sondern einfach denken, „Ach, es ist Samstagmorgen, ich habe Zeit, die Ärzte haben auf, ich habe einen leichten Husten“, weshalb dann die wirklichen Härtefälle oft nicht gut behandelt werden. Das ging dann soweit, dass wir festgestellt haben, dass in Berlin ganz konkret debattiert wird, einen Facharzt „Akutmediziner“ einzuführen. In dem Moment war es ein Thema für uns. Dann haben wir das wirklich sehr groß, wieder sehr seriös, sehr ausgewogen gemacht. Das hat tatsächlich sogar, glauben wir, politisch etwas bewirkt, insofern, dass dieser „Facharzt für Akutmedizin“ zwei Wochen später vom Senator konkret angekündigt wurde. Große Themen, große Zeitung, große Stadt. Ist das die Kuwi-Karriere, von der alle träumen? Bis zu diesem Punkt schon. Also der Schmerz ist, dadurch wenig selbst zu schreiben, weil das halt sehr aufreibend und fordernd ist, weil man sehr viel damit zu tun hat, wenn man immer jede Woche so ein Resending mit vielen Elementen über die Linie tragen muss. Aber bis zu diesem Punkt, ja. Hast du dir dein Berufsleben so vorgestellt, als du das studiert hast? War das dein Ziel? Nein, ich habe nicht auf Redakteur studiert. Aber ich habe schon, was bei „Kreativem Schreiben und Kulturjournalismus“ nicht typisch ist, auf Journalismus studiert. Aber ich habe mir jetzt nicht vorgestellt, dass ich am Ende der Typ bin, der gar nicht mehr schreibt, sondern nur noch Texte „verwaltet“. Aber das ist auch so ein bisschen, wo Hildesheim mich hingebracht hat. Denn am Anfang des Studiums, in der Phase, wo ich dann doch literarisch schreiben wollte, habe ich gemerkt, ich bin da zwar gut, aber es gibt da Leute, die sind da einfach noch besser. Mit genau der Erfahrung habe ich mich dann, als ich mit Journalismus richtig angefangen habe, auch wieder konfrontiert gesehen. Da habe ich gemerkt, ich bin zwar ein guter Autor, sprachgewandt und irgendwie auch nicht ganz doof, aber es gibt Leute, die sind einfach begnadet. Da bin ich jetzt total glücklich mit, diesen Leuten zu helfen, das Beste aus sich herauszuholen. Kann man sagen, dass Hildesheim dich verändert hat? Ja, auf jeden Fall! Ich glaube, es ist ganz typisch, dass man zunächst mit dieser totalen Selbstüberschätzung nach Hildesheim geht. So nach dem Motto „Ich bin hier der neue Pipapo“. Gleichzeitig dann natürlich diese Verunsicherung: „Warum hat das jetzt noch keiner erkannt, was fehlt mir noch? Oh Gott, vielleicht bin ich doch der allerschlechteste Autor der Welt.“ In Hildesheim lernt man dann relativ schnell, was Stuckrad-Barre hat, was ich nicht habe, und wird, was das angeht, bescheidener, auch weil man eben immer Kommilitoninnen und Kommilitonen um sich herum hat, die in bestimmten Dingen einfach besser sind. Gerade dadurch, dass man die ganze Zeit mit Leuten zu tun hat, die ähnliche Dinge machen, die auch an Texten arbeiten, kommt man irgendwann zu einer realistischen Selbsteinschätzung und auch zu einer guten Idee, was man vielleicht wirklich besser kann, als fast alle anderen. Und was ist das bei Dir? Als ich mit dem Volontariat angefangen habe, habe ich noch gedacht, dass ich zwar vielleicht nicht der beste kreative Schreiber der Welt bin, aber immer noch der beste Kulturjournalist der Welt. Dann habe ich durch die Skills im Einsortieren und Eingruppieren, die ich mir in Hildesheim angeeignet habe, hier relativ schnell gemerkt, dass ich mich noch weiter spezialisieren muss. Das klingt jetzt ein bisschen eitel, aber ich glaube, ich bin in dem, was ich jetzt mache, wirklich sehr, sehr gut. Sowohl emotional als auch fachlich, weil ich mit Texten arbeiten kann. Ich weiß einfach, was ein Text braucht. Ich bin auch selber eitel genug, um zu verstehen, welche Form von Ansprache Starautoren (lacht) brauchen. Und ich komme mit Leuten klar, aus dem Tagespiegel-Kosmos und auch mit den freien Reportern – mit denen kommt hier sonst fast niemand klar. Weil ich auch durch die Hildesheim-Erfahrung mit vielen schwierigen, egomanischen, extrem kreativen Menschen immer ganz gut weiß, wann ich einfach meine Fresse halten muss. Hilft dir deine Hildesheimer Erfahrung in deinem jetzigen Job? Ich glaube, Hildesheim macht tatsächlich vieles einfacher, weil man, um mal mit Heidi Klum zu sprechen, Competition lernt. Und dass es dabei trotzdem nie ohne Herzlichkeit und Herzblut und auch Verletzlichkeit bei den anderen geht. In Hildesheimer Kreativ-Schreiber-Kreisen lernt man ein „Schütze dein Ego in einer Ego-Welt“. Ich fand es teilweise ziemlich entnervend. Ich habe mich auch lange schwer getan, in Hildesheim richtige Freunde zu finden, gerade unter den anderen Schreibern. Das ist vielleicht auch so ein typisches Hildesheimer Ding. Du hast vielleicht nicht den einen Superfreund, die eine Superfreundin. Du hast einen relativ großen Kreis guter Bekannter und, wenn es an einer Ecke gerade Randale gibt, ist an der anderen Ecke immer einer, mit dem man dann genau über diese Randale reden kann. Es ist dann auch ein bisschen wohlfeil und bigott, weil es sich auch innerhalb von zwei Wochen genau umkehren kann. Hildesheim ist schon so eine kleine Soap-Opera für sich, oder? Ja, das ist es auf jeden Fall, weil es für alles Andere auch wiederum nicht groß genug ist. Die Leute sind permanent aufeinander bezogen in so einer 80- bis 100-Mann-starken Kohorte. War Hildesheim hart für Dich? Es ist immer so schwierig hinterher zu beurteilen, ob diese Institutionen, die man während des Studiums hatte, zu hart waren, oder ob man mit dem richtigen Leben so vergleichsweise gut klar kommt, gerade weil sie so hart waren. Es gab ja in Hildesheim zum Beispiel diese Festivals mit den Festivalzeitungen, wo irgendjemand aus dem höheren Semester dort stand und den Hut auf hatte, später war man es dann auch selbst, und man die Leute wirklich bis an den Anschlag getriezt hat. So nach dem Motto: „Du musst in einer Nacht drei Rezensionen schreiben und am nächsten Tag sofort wieder in einer Matinee sitzen“, was natürlich kein realistisches Arbeitsleben ist. Was auch überhaupt nicht durchzuhalten wäre, wenn es nicht immer projektbezogen gewesen wäre... Genau. Insofern war Hildesheim einfach systemisch unrealistisch, wie glaube ich jede Ausbildungsstätte, weil du immer dieses Wellen-Tal-mäßige hast. Ich erinnere mich noch sehr gut an transeuropa 2006, 44 Stunden nicht geschlafen und dann zimmert Fabio Grosso im Halbfinale diesen Ball rein und du packst es nicht mehr und brichst zusammen, weil du einfach so fertig bist mit allem. Das gibt es im Berufsleben ja realistischerweise nicht, gerade, wenn man einen Redakteursberuf und seine fünf Tage die Woche hat. Man teilt sich das ein, macht an einem Tag das und am nächsten Tag das andere. Gibt es denn etwas, das du nicht in Hildesheim gelernt hast, das du im Nachhinein gern gelernt hättest? Richtig akademisch zu arbeiten (lacht). Manche sagen, das das, was wir in Hildesheim gemacht haben, mit richtiger Wissenschaft, also Literaturwissenschaften, nichts zu tun hat. Ich hätte mich gern einmal in dem ausprobiert, was richtige Wissenschaft ist. Ich kann es überhaupt nicht beurteilen, weil es mir fehlt. In meinem Jahr in St. Louis, wo ich am German Department war, hatte ich zwar nicht das Gefühl, übertrieben defizitär zu sein. Ich kam da gut klar, habe lustige Vorträge über Max Gold gehalten und so. Aber es kann auch sein, dass es einfach nur in einem Jahr genügt, geschickt Nischen zu besetzen. Dir fehlte also im Studium die wissenschaftliche Tiefe? Ich hätte gern mal gewusst, was das bedeutet, auf die Länge der Strecke Theorie hart zu erarbeiten und nicht immer nur das von unseren Professoren propagierte raubtierhafte Lesen, nach dem Motto: „Frage nicht, was du für die Wissenschaft tun kannst, sondern nimm dir nur aus der Wissenschaft, was du brauchst und setze es neu zusammen“. Demnach ist es überhaupt nicht wichtig, ob man Derrida komplett verstanden hat, sondern, wenn es eine Passage gibt, die einem etwas sagt, dann arbeitet man einfach mit dieser in dem Sinne, wie man meint, dass es passt. Obwohl ich glaube, dass da viel dran ist, hätte ich gern mal die andere Seite gesehen. Man weiß ja nicht, was einem entgangen ist. Ich denke immer, ich würde gern auch mal seriös arbeiten können (lacht). Ich dachte, Du machst seriösen Journalismus? Stimmt. Andererseits kann man dann wiederum sagen, die Art, auf die in Hildesheim Wissenschaft light gemacht wird, qualifiziert natürlich total für den Journalismus. Manchmal finde ich, ist so ein gröberes Messer für eine Tageszeitung nicht ganz unangebracht. Das lernt man, glaube ich, in Hildesheim, dass man wirklich guckt, dass da ein Kontext ist, der soweit durchdrungen werden muss, bis man das Gefühl hat, dass man keine Scharlatanerie betreibt, aber man muss nicht jeden Text internalisiert haben und jeden Kontext, der im Gröbsten damit zu tun hat, um diesen Diskurs weiterzubringen. Man muss orientiert sein, aber man muss nicht alles internalisiert haben. Ich glaube, diese Geisteshaltung – gerade jetzt in so einer schnelleren Form des Feuilletonismus, auch mit den Onlinemedien zum Beispiel – ist nicht das schlechteste Temperament. Hast du noch etwas, dass du gern hinzufügen möchtest? Was ich gern einmal in Richtung Hildesheim sagen würde: Umarmt diese Stadt! Berlin zum Beispiel ist nicht so viel toller. Ich fand Hildesheim einen ganz guten Ort, an dem man bestimmte Dinge sehr gut in einem übersichtlichen Rahmen lernen konnte, wenn man sich darauf eingelassen hat. Auch was Alltagsbeobachtungen angeht. Wenn die Leute in Hildesheim ihre Emo-Blogs darüber schreiben, wie schlecht es ihnen geht und dass sie nach Berlin wollen, da denke ich mir dann: Geht doch einfach mal in die Kneipen nebenan und guckt, wie dieses Soziosystem funktioniert. Fertig, aus. Ist das nicht im einem anderen Maßstab genau das, was du jetzt machst: eine große Stadt beobachten und rausfiltern, was Besonderes, Spannendes da ist? Ja genau. In einer großen Stadt ist natürlich viel mehr da. Um das dann aber hinterher durchblicken zu können, sollte man, wenn man in Hildesheim ist, sich nicht die ganze Zeit selbst über die Stadt und ihre Menschen erheben. Denn dann kann man nämlich am Ende, wenn man rauskommt, nur sich selbst geil finden oder sich selbst bemitleiden, aber nicht Geschichten finden. Da kommen dann so Sachen bei raus, dass Leute sagen, wenn sie frisch in Berlin sind, sie würden gern mal etwas über die Karl-Marx-Straße machen. Sie fänden das total spannend mit den postmigrantischen Milieus, den Hipstern. Man denkt dann nur „gähn“, kannst du das bitte zuspitzen und genauer sagen, was du möchtest? Vielleicht den Ort auch ein bisschen kleiner fassen. Nimm dir doch einfach einen Spätkauf mit Internetcafé drin und guck mal, wer da eigentlich noch an die Rechner sitzt. Warum gibt es das überhaupt noch, wo alle Leute doch heute Smartphones haben? Das ist eine interessante Geschichte, die man auch in Hildesheim hätte aufschreiben können. Ich denke mir immer, wenn ihr da nicht gut seid, dann seid ihr hier auch nicht gut. Lieber Jo, vielen Dank für das Gespräch und deine offenen Worte! |
Das Bewerbungsfoto von Jo Schneider für sein Volontariat aus dem Jahr 2010 (Foto: privat)
Jo Schneider als Redakteur beim Tagesspiegel (Foto: Kai-Uwe Heinrich/Tsp)
KurzprofilRedakteur beim Berliner Tagesspiegel, als Teil einer Doppelspitze verantwortlich für die Samstagsbeilage Mehr Berlin – Vier Seiten Kunst, Politik und Stadtgefühl.
Abschluss: Diplom-Kulturwissenschaftler im Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ (2011) Nebenfächer: Theater/Medien/Musik, Philosophie |